Verfassungsgerichtshof zur Notwendigkeit einer Rechtsmittelbelehrung bei der Zustellung eines Urteils

Am 10. Februar 2022 (Entscheid Nr. 23/2022) hat der Verfassungsgerichtshof geurteilt, dass Artikel 43 des Gerichtsgesetzbuches gegen die Verfassung und Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf ein faires Verfahren) verstößt, da er nicht vorschreibt, dass bei der Zustellung eines Urteils, die Rechtsmittel gegen dieses Urteil, die Fristen, innerhalb derer das oder die Rechtsmittel eingereicht werden können, und die Bezeichnung und die Adresse des zuständigen Gerichts angegeben werden müssen.

Um das Recht auf Zugang zu einem Gericht sicherzustellen, sei es jedoch erforderlich, dass der Rechtssuchende ausdrücklich über die Möglichkeit informiert wird, eines oder mehrere Rechtsmittel gegen das Urteil einzureichen, das ihm zugestellt wird.

Der Gesetzgeber wurde aufgefordert eine gesetzliche Grundlage für eine entsprechende Rechtsmittelbelehrung zu schaffen.

Bis dahin (oder spätestens bis zum 31. Dezember 2022) bleiben Zustellungen auch ohne Rechtsmittelbelehrungen gültig.

Die Untersuchungshaft darf nicht als Zwangsmittel gebraucht werden

Jeder Beschuldigte hat das Recht zu schweigen oder zu lügen.  Die Behörden dürfen demnach einen Beschuldigten nicht in Untersuchungshaft setzen, damit er redet, oder die Wahrheit sagt.

Der Haftbefehl, der aus den eben erwähnten Gründen ausgestellt wird, ist illegal.

Vor dem Kassationshof stellte sich jedoch die Frage, ob ein entsprechender Fehler des Untersuchungsrichters im Rahmen des Haftprüfungstermins korrigiert werden kann, d.h. den illegalen Grund durch einen legalen Grund ersetzt werden kann.

Der Kassationshof verneint dies.  Ein Haftbefehl, welcher ausgestellt wird, damit ein Beschuldigter redet, bzw. Lügen berichtigt, kann im Rahmen der Haftprüfung nicht korrigiert werden und bleibt illegal.

(Kass., 10/02/2021, P.21.0163.F)

Kassationshof: Im Rahmen eines Staatenlosigkeitsantrages sind die Gerichte zuständig, um zu bestimmen, ob eine Körperschaft ein Staat ist.

Es ist umstritten, ob Palästina ein Staat ist und demnach ob Palästinenser eine Nationalität haben oder staatenlos sind.

Palästina wurde nicht durch die belgische Regierung als Staat anerkannt.

Für den Kassationshof (Entscheid C.21.0095.F vom 19. November 2021) ist dies jedoch nicht ausschlaggebend, um zu bestimmen, ob es sich um einen Staat handelt.

Vielmehr müsse das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht herangezogen werden. Demnach bestehe ein Staat, wenn vier Bedingungen erfüllt sind:

  • Es muss eine Bevölkerung geben.
  • Es muss ein bestimmtes Gebiet geben.
  • Es muss eine Regierung geben, welche eine reelle und effektive Autorität ausübt.
  • Die Körperschaft muss die Fähigkeit aufweisen, mit anderen Staaten in Beziehung zu treten.

Zu der Frage, ob diese vier Bedingungen im Falle von Palästina erfüllt sind, hat sich der Kassationshof nicht geäußert.

Somit bleibt trotz der höchstrichterlichen Rechtsprechung alles beim Alten: Während manche Gerichte davon ausgehen, dass die vier vorgenannten Bedingungen erfüllt sind und Palästina ein Staat ist, äußern andere Gerichte Zweifel daran, dass Palästina über eine souveräne Staatsgewalt sowie die Fähigkeit mit anderen Staaten in Beziehung zu treten verfügt.

Kassationshof weist Rekurse gegen Palästina-Entscheide der deutschsprachigen Kammer des Appellationshofes Lüttich ab

In mehreren Entscheiden hatte die deutschsprachige Kammer des Appellationshofes Lüttich entschieden, dass die palästinensischen Gebiete in Belgien nicht als Staat anzusehen sind. Demnach gebe es auch keine „palästinensische Nationalität“, sodass Palästinenser als Staatenlose anerkannt werden könnten.

Die Generalstaatsanwaltschaft, welche – wie die meisten anderen Gerichte in Belgien – der Ansicht ist, dass Palästina ein Staat ist und Palästinenser demnach keine Staatenlosen sind, hatte vor dem Kassationshof gegen diese Entscheide geklagt.

Der Kassationshof hat die Rekurse nun aus rein formellen Gründen abgewiesen, ohne sich inhaltlich zu der Frage zu äußern, ob Palästina in Belgien als Staat anzusehen ist oder nicht (Entscheid C.20.0292.F vom 19. November 2021).

Verfassungsgerichtshof präzisiert die Haftungsbedingungen des Staates im Falle eines Fehlers durch die Gerichtsbarkeiten

Der Belgische Staat kann haftbar gemacht werden für die Fehler, die Gerichte begehen.

Wenn ein Gericht, dessen Entscheidung Gegenstand eines Rekurses sein kann, einen Fehler gemacht hat, dann kann die Haftung des Belgischen Staates erst dann gegeben sein, wenn diese Entscheidung im Rahmen eines Rechtsmittels angegriffen wurde und reformiert zurückgenommen oder annulliert wurde.

Es gibt jedoch verschiedene Gerichte, deren Entscheidungen nicht mit einem Rechtsmittel angegriffen werden können, weil sie in der letzter Instanz gefällt werden.

Diese Entscheidungen können also weder zurückgenommen, reformiert oder annulliert werden.

Der Fassungsgerichtshof hat nun präzisiert, unter welchen Voraussetzungen, die Haftung des Belgischen Staates für die Fehler, die diese Gerichte begehen, gegeben sein kann.

Bezüglich der Fehler aller Gerichte, außer die des Kassationshofes, des Verfassungsgerichtshofes und des Staatsrates, gelten die normalen Haftungsregeln.

Wenn die Haftung des Kassationshofes, des Staatsrates oder des Verfassungsgerichtshofes gesucht wird, muss man jedoch nachweisen, dass es sich um einen charakterisierten, schweren Fehler handelt (VGH 21/01/2021, Nr. 7).

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