Kassationshof erklärt, wann kranke Ausländer Anrecht auf Sozialhilfe haben.

Bereits vor einiger Zeit hatte der Europäische Gerichtshof (Entscheid C-562/13 vom 18. Dezember 2014) geurteilt, dass ein Einspruch gegen eine Entscheidung, die einem schwer kranken Ausländer auferlegt, die Europäische Union zu verlassen, eine aufschiebende Wirkung haben muss, wenn die Ausführung dieser Entscheidung den Ausländer einer ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte (sog. „Abdida-Rechtsprechung“). Mit anderen Worten muss einem Ausländer, welcher sich in einer solchen Situation befindet, die Möglichkeit gegeben werden, solange in der Europäischen Union zu bleiben, bis über seinen Einspruch entschieden wurde.

Der Kassationshof (Entscheid S.18.0022.F  vom 25. März 2019) ist der Ansicht, dass es nicht erforderlich ist, dass der Einspruch vor dem Rat für Ausländerstreitsachen gegen eine Ablehnungsentscheidung eines Antrages auf medizinische Regularisierung (Art. 9ter des Aufenthaltsgesetzes) auf ersten Blick begründet scheint und dass der Ausländer den Nachweis der Schwere seiner Erkrankung sowie des vorgenannten Risikos erbringt, damit seinem Einspruch eine aufschiebende Wirkung zugesprochen werden kann. Vielmehr reiche es aus, wenn ein vertretbarer Beschwerdegrund gegen die Ablehnungsentscheidung des Antrages auf medizinische Regularisierung vorgebracht werde.

In solchen Fällen hätte der betroffene Ausländer auch Anrecht auf Sozialhilfe.

Kassationshof: Orange Karte eröffnet Anrecht auf garantierte Familienzulagen.

Der Kassationshof (Entscheid S.17.0086.F/10 vom 8. April 2019) kommt zu dem Schluss, dass die Kinder eines Ausländers, dessen Antrag auf medizinische Regularisierung (Art. 9ter des Aufenthaltsgesetzes) für zulässig erklärt wurde und welchem demnach eine sog. „orange Karte“ (Eintragungsbescheinigung – Muster A) ausgestellt wurde, Anrecht auf garantierte Familienzulagen haben.

Ein Einreiseverbot stellt keinen angemessenen Grund dar, um die Ablehnung eines Antrages auf Familienzusammenführung zu rechtfertigen, wenn dieser eingereicht wurde, ohne das die betroffene Person zwischenzeitlich das Land verlassen hätte.

Im vergangenen Jahr hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass die Frist eines Einreiseverbotes erst zu laufen beginnt, wenn die betroffene Person das Gebiet, aus welchem sie ausgewiesen wird, effektiv verlassen hat (Ouhrami gegen Niederlande) und dass ein Antrag auf Familienzusammenführungen unter Verweis auf ein bestehendes Einreiseverbot (unter der Bedingung, dass zuvor eine Prüfung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Antragsteller und dem Zusammenführenden durchgeführt wurde) abgelehnt werden kann (K.A. u.a. gegen Belgien).

Der Rat für Ausländerstreitsachen hat nun in mehreren Angelegenheiten (u.a. Entscheid Nr. 212.172 vom 9. November 2018) die Lehren aus diesen Urteilen gezogen und geschlussfolgert, dass, wenn eine Person, der zuvor ein Einreiseverbot auferlegt wurde - ohne zwischenzeitlich das Land verlassen zu haben - einen Antrag auf Familienzusammenführung einreicht, das Einreiseverbot keinen zulässigen Grund darstellt, um eine Ablehnung zu rechtfertigen.

Gängige Praxis des Ausländeramtes Regularisierungsanträge aus medizinischen Gründen (Art. 9ter) unter Bezug auf Informationen aus nicht öffentlichen Datenbanken abzulehnen, verletzt die formelle Begründungspflicht des Ausländeramtes.

Regularisierungsanträge aus medizinischen Gründen werden in der Regel zunächst durch einen Arzt des Ausländeramtes auf ihre Stichhaltigkeit geprüft. Um zu prüfen, ob eine erforderliche medizinische Behandlung im Heimatland verfügbar ist, stützen diese sich meistens auf Informationen einer Datenbank (MedCOI), welche nicht öffentlich zugänglich ist. Schlussfolgert der Arzt aufgrund dieser Informationen, dass die Behandlung im Heimatland verfügbar ist, lehnt das Ausländeramt in der Regel unter Verweis auf das Gutachten seines Arztes den Regularisierungsantrag ab.

Jede Verwaltungsentscheidung muss jedoch die Gründe aufführen, welche zu dieser Entscheidung geführt haben. Es ist erlaubt unter Verweis auf andere Unterlagen eine Entscheidung zu begründen, insofern der Antragsteller spätestens bei Übermittlung der Entscheidung Kenntnis dieser Unterlagen erhält.

Dies ist nicht der Fall, wenn sich das Ausländeramt auf nicht öffentlich zugängliche Datenbanken bezieht, ohne den Antragsteller über deren Inhalt zu informieren, indem die Informationen aus dieser Datenbank zumindest teilweise widergegeben oder zusammengefasst werden.

Entsprechende Entscheidungen sind demnach nichtig und werden durch den Rat für Ausländerstreitsachen (Entscheid Nr. 211 356 vom 18. Oktober 2018) aufgehoben.

Palästinenser: Humanitäre Krise im Gazastreifen führt zu einer unfreiwilligen Aufgabe des UNRWA-Schutzes, welche die automatische Zuweisung des Flüchtlingsstatuts zur Folge hat.

Viele Palästinenser sind beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) registriert.

Wenn der palästinensische Asylantragsteller verpflichtet war, das Schutzgebiet der UNRWA zu verlassen, endet der Schutz dieser Organisation und er erhält automatisch das Flüchtlingsstatut.

Hierfür müssen zwei Bedingungen erfüllt: Einerseits muss der Antragsteller sich persönlich in einer schweren Unsicherheitssituation befunden haben und andererseits darf das UNRWA nicht in der Lage gewesen sein, seinen Schutzauftrag korrekt wahrzunehmen.

Der Rat für Ausländerstreitsachen (Entscheid Nr. 207 948 vom 21. August 2018) ist der Ansicht, dass die „humanitäre Krise“ (seltene Öffnung der Grenzposten, Sicherheitssituation, …), welche in Gaza besteht, die unfreiwillige Aufgabe des UNRWA-Schutzes mit sich bringt und demnach die automatische Zuweisung des Flüchtlingsstatutes zur Folge haben muss.

/KONTAKTDATEN

Kelmis 

Kapellstraße 26
B-4720 Kelmis

T +32 (0) 87 65 28 11
F +32 (0) 87 55 49 96
E info@levigo-avocats.be